Wichtige Änderung der arbeitsrechtlichen Kündigungsfristen durch den Europäischen Gerichtshof
So manche Entscheidung der europäischen Institutionen empfindet der Bürger zu Recht als bürokratisch, lästig oder in Einzelfällen auch als lächerlich. Die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) hingegen haben unsere Aufmerksamkeit verdient, weil sie oft erheblichen Einfluss auf Alltag und Beruf einer großen Anzahl von EU-Bürgern – auch in Deutschland – nehmen. Dieser Einfluss geht soweit, dass Gesetze, die Arbeitgeber ebenso wie Arbeitnehmer verinnerlicht hatten und für unverrückbar hielten, für unwirksam erklärt werden. Eine solche Entscheidung stellt das Urteil vom 19.01.2010 (Az. Rs. C-555/07 „Kücükdeveci“) dar. Es befindet die gesetzliche Regelung des § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB, wonach bei der Berechnung individueller Kündigungsfristen gegenüber dem Arbeitnehmer die Beschäftigungszeiten, die vor der Vollendung des 25. Lebensjahres liegen, nicht berücksichtigt werden, als mit dem EU-Recht unvereinbar. Die hinter dem Gesetz stehende Überlegung war die, dass Arbeitgeber mindestens teilweise von der Belastung längerer Kündigungsfristen befreit werden sollten. Man hatte das für junge Arbeitnehmer als zumutbar angesehen, weil es ihnen regelmäßig leichter falle, auf den Verlust eines Arbeitsplatzes zu reagieren. Dieser Überlegung hat der Europäische Gerichtshof eine Absage erteilt. Nicht nur die hohe Jungendarbeitslosigkeit habe gezeigt, dass diese Überlegung so nicht zutrifft. Vor allen Dingen wurde beanstandet, dass die nicht berücksichtigte Betriebszugehörigkeit dem Arbeitnehmer auch dann fehlt, wenn ihm zu einem Zeitpunkt gekündigt wird, in dem er nicht mehr der Gruppe der „jüngeren“ Arbeitnehmer zuzurechnen ist.
Diese schon länger erwartete Entscheidung wirkt sich für Arbeitnehmer und Arbeitgeber vielfältig und keineswegs nur für die Zukunft aus. Zunächst sind nicht nur die nach dem Urteil ausgesprochenen Kündigungen, soweit Betriebszugehörigkeiten vor dem 25. Lebensjahr vorliegen, betroffen. Vielmehr können Arbeitnehmer auch schon länger zurückliegende Kündigungen auf diese Problematik hin überprüfen und z. B. Lohnansprüche für die nicht berücksichtigten Kündigungsmonate geltend machen. Hieran sind sie nicht durch die dreiwöchige Klagefrist der Kündigungsschutzklage gehindert. Die zu kurz bemessene Kündigungsfrist betrifft nicht die Wirksamkeit der Kündigung, sondern das tatsächliche Ende des Arbeitsverhältnisses und kann damit unbefristet geltend gemacht werden. Zu beachten sind allerdings Verjährungsfristen oder tarifvertragliche bzw. arbeitsvertragliche Verfallsfristen. Sind letztere aber kürzer als drei Monate bemessen, so sind sie unwirksam.
Die Bedeutung der Entscheidung reicht aber viel weiter. Die Vorenthaltung oder Kürzung von Leistungen für Betriebszugehörigkeiten vor Ablauf eines bestimmten Lebensalters findet sich auch in Tarifverträgen, Sozialplänen, Betriebsvereinbarungen oder in betrieblichen Übungen. Betroffen sind nicht nur Kündigungsfristen, sondern auch Jubiläumszuwendungen, Erhöhung des Urlaubsanspruchs oder auch Abfindungen in Sozialplänen. All diese Regelungen sind unwirksam, mindestens insoweit, als sie einen Arbeitnehmer, der bei gleicher Betriebszugehörigkeit erst nach Vollendung der Altersgrenze in den Betrieb eintrat, bevorzugen. Da eine Unterscheidung hier regelmäßig nicht getroffen wird, wird in der Mehrzahl aller Fälle von einer Unwirksamkeit derartiger Bestimmungen auszugehen sein. Unter diesem Aspekt ist auch die betriebliche Altersversorgung zu überprüfen und gegebenenfalls entsprechend der jetzigen Rechtslage anzupassen.
Obwohl ein Arbeitgeber zu Recht darauf hinweisen könnte, sich bei der Berechnung der Kündigungsfristen lediglich an die gesetzliche Regelung gehalten und auf deren Bestand vertraut zu haben, wird ihm nicht einmal der Schutz vor einer Rückwirkung des jetzigen Urteils zuteil werden können. Die Regelung ist im Licht der EU-Richtlinien schon seit längerer Zeit als Benachteiligung aus Altersgründen und damit als unwirksam empfunden worden. Deshalb besteht keine Unkenntnis und auch kein schützenswertes Interesse des Arbeitgebers, die Regelung erst auf Fälle seit dem Urteil anzuwenden. Dem Arbeitgeber kann insoweit nur geraten werden, für die Zukunft Vorsorge zu treffen und entsprechende Regelungen aus Verträgen und Vereinbarungen zu entfernen bzw. in Zukunft nicht mehr anzuwenden.
Das Urteil zeigt – mehr noch als die Entscheidung zur Abgeltung des nicht mehr durch Krankheit verfallenden Jahresurlaubs – deutlich die große Bedeutung der EU-Richtlinien und der darauf gestützten Urteile des EuGH. Wünschenswert wäre, dass der deutsche Gesetzgeber bei der Umsetzung der Richtlinie in das deutsche Recht sorgfältiger und rascher arbeitet und nicht leichtfertig darauf vertraut, bisherige Regelungen würden dem Maßstab der europäischen Richtlinien ohne Weiteres genügen. Dem Arbeitnehmer oder Arbeitgeber, der bereits durch die Entscheidung des EuGH betroffen ist, muss dringend empfohlen werden, fachkundigen anwaltlichen Rat einzuholen und eventuelle Ansprüche überprüfen zu lassen.
Rechtsanwalt Michael Zerfowski
Fachanwalt für Arbeitsrecht, Fachanwalt für Verkehrsrecht
Rechtsanwälte Schäufele & Zerfowski
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