Zur Haftung eines unter zehn Jahre alten Kindes im Straßenverkehr
Problemstellung:
Mit Inkrafttreten des zweiten Gesetzes zur Änderung schadensrechtlicher Vorschriften vom 19.07.2002 zum 31.07.2002 ist ein Kind, welches das siebte, aber nicht das zehnte Lebensjahr vollendet hat, für den Schaden, den es bei einem Unfall mit einem Kraftfahrzeug einem anderen zufügt, nicht verantwortlich. Dies gilt nicht, wenn es die Verletzung vorsätzlich herbeigeführt hat (§ 828 II BGB).
Bereits kurze Zeit nach Inkrafttreten dieses Haftungsprivilegs entfachte sich in der Rechtsprechung eine heftige Auseinandersetzung zu der Frage, ob diese Haftungsprivilegierung von unter zehn Jahre alten Kindern auch bei Kollisionen mit Kraftfahrzeugen im ruhenden Verkehr eingreift.
Mit seinen Entscheidungen vom 30.11.2004, Az. VI ZR 335/03, sowie 21.12.2004, Az. VI ZR 276/03, hat der Bundesgerichtshof diese Fragestellung für die Praxis beendet und klargestellt, dass die Haftungsprivilegierung nach dem Sinn und Zweck der Vorschrift nur eingreift, wenn sich eine typische Überforderungssituation des Kindes durch die spezifischen Gefahren des motorisierten Verkehrs realisiert hat.
Der Entscheidung vom 30.11.2004 lag dabei folgender Sachverhalt zugrunde:
Der damals neun Jahre alte Beklagte veranstaltete mit seinen Klassenkameraden auf der Fahrbahn einer Straße ein Wettrennen mit Kickboards. Dabei stürzte der Beklagte aus Unachtsamkeit, wodurch sein Kickboard gegen den ordnungsgemäß am Straßenrand geparkten Pkw des Klägers prallte, der beschädigt wurde.
Das Amtsgericht und das Landgericht haben der Klage stattgegeben. Das Berufungsurteil hielt der revisionsrechtlichen Nachprüfung durch den Bundesgerichtshof stand.
Urteilsgründe:
Zunächst befasste sich der Bundesgerichtshof mit der sprachlichen Auslegung des Begriffes „mit einem Kraftfahrzeug“. Danach konnte bei einer isolierten Betrachtung allein nach dem Wortlaut der neu gefassten Vorschrift zwar der Sachverhalt unter das Haftungsprivileg fallen, denn aus seinem Wortlaut geht nicht hervor, dass das Haftungsprivileg davon abhängen soll, ob sich das bei dem Unfall beteiligte Kraftfahrzeug im fließenden oder – wie der hier geschädigte parkende Pkw – im ruhenden Verkehr befindet. Da der Wortlaut des § 828 Abs. 2 BGB jedoch nicht zu einem eindeutigen Ergebnis führte, war der in der Vorschrift zum Ausdruck gekommene objektivierte Wille des Gesetzgebers mit Hilfe der weiteren Auslegungsmöglichkeiten zu ermitteln. Im Rahmen der Auslegung bemühte der BGH insbesondere die Gesetzesmaterialien. Nach Auffassung des Revisionsgerichtes ergab hieraus sich mit der erforderlichen Deutlichkeit, dass das Haftungsprivileg des § 828 Abs. 2 S. 1 BGB nach dem Sinn und Zweck der Vorschrift nur eingreift, wenn sich bei der gegebenen Fallkonstellation eine typische Überforderung des Kindes durch die spezifischen Gefahren des motorisierten Verkehrs realisiert hat. Mit der Einführung der Ausnahmevorschrift wollte der Gesetzgeber dem Umstand Rechnung tragen, dass Kinder regelmäßig, frühestens ab Vollendung des zehnten Lebensjahres im Stande sind, die besonderen Gefahren des motorisierten Straßenverkehrs zu erkennen, insbesondere Entfernungen und Geschwindigkeiten richtig einzuschätzen und sich den Gefahren entsprechend zu verhalten, und nicht bei sämtlichen Verkehrsunfällen die Deliktsfähigkeit erst mit Vollendung des zehnten Lebensjahres beginnen lassen. Der Bundesgerichtshof folgerte aus diesen Gesetzesmaterialien, dass der Gesetzgeber die Heraufsetzung der Deliktsfähigkeit vielmehr auf die im Straßenverkehr plötzlich eintretende Schadenereignisse begrenzen wollte, bei denen die altersbedingten Defizite eines Kindes, z. B. Entfernungen und Geschwindigkeiten nicht richtig einschätzen zu können, regelmäßig zum Tragen kommen. Für eine solche Begrenzung spreche auch, dass sich Kinder im motorisierten Verkehr durch die Schnelligkeit, die Komplexität und die Unübersichtlichkeit der Abläufe in einer besonderen Überforderungssituation befinden. Gerade in diesem Umfeld wirkten sich die Entwicklungsdefizite von Kindern besonders gravierend aus. Demgegenüber weisen der nicht motorisierte Straßenverkehr und das allgemeine Umfeld von Kindern für gewöhnlich keine vergleichbare Gefahrenlage auf.
Nach Ansicht des BGH wollte der Gesetzgeber deshalb in den Fällen einer typischen Überforderung der betroffenen Kinder durch die spezifischen Gefahren des motorisierten Verkehrs Rechnung tragen, weshalb nur dann, wenn sich bei dem Schadensfall eine typische Überforderung des Kindes durch die spezifischen Gefahren des motorisierten Verkehrs verwirklicht hat, eine Ausnahme von der Deliktsfähigkeit bei Kindern vor Vollendung des zehnten Lebensjahres schaffen wollte. Andere Schwierigkeiten für ein Kind, sich im Straßenverkehr verkehrsgerecht zu verhalten, sollten diese Ausnahmen nicht rechtfertigen.
Im Streitfalle sah der BGH wegen dieser Grundsätze keine derart typische Überforderungssituation des Kindes, welche auf den spezifischen Gefahren des motorisierten Verkehrs beruhten. Auch konnte das Kind nach Auffassung des Revisionsgerichtes die Gefährlichkeit seines Tuns erkennen und sich dementsprechend verhalten. Insbesondere sei es dem beklagten Kind möglich und zumutbar gewesen, das Spielgerät so zu benutzen, dass eine solche Schädigung vermieden wird. Diese Sorgfalt hätte das beklagte Kind missachtet, indem es Wettrennen mit seinen Freunden ausgeführt habe und so schnell gefahren sei, dass es stürzte und sein Kickboard führungslos mit dem Pkw des Klägers zusammenstieß. Mit dieser Begründung wurde die Entscheidung des Berufungsgerichtes bestätigt.
Peter Schäufele
Rechtsanwalt
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